Religion ist für viele Menschen in Lateinamerika ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. In Venezuela zieht die Prozession der Jungfrau Divina Pastora tausende Menschen auf die Straße. Diese Wallfahrt gilt als die drittgrößte der Welt.

Ein Text von Delia Andreina García Martínez, mit Fotos von Héctor Andrés Segura (Instagram: segurita05).

Menschenmassen auf der Straße sind in Venezuela in den vergangenen Jahren vor allem bei Protesten und Unruhen in Fernsehbildern zu sehen. In Barquisimeto, Hauptstadt des Bundesstaats Lara im Nordwesten des Landes versammeln sich dagegen tausende Menschen für die Prozession der Jungfrau Divina Pastora und feiern gemeinsam mit einer großen Wallfahrt. Die Prozession, die seit 162 Jahren am 14. Januar stattfindet, ist eine der wichtigsten religiösen Traditionen Venezuelas und erstreckt sich über mehr als sieben Kilometer von Santa Rosa bis zur Kathedrale von Barquisimeto. Dabei wird die schwere Figur von zehn Menschen auf Händen getragen und weitergereicht. Jedes Jahr wird ein neues eindrucksvolles Kleid für die Divina Pastora geschneidert, welches von einem*r Designer*in aus der Region entworfen wird. In einigen Jahren kamen bis zu vier Millionen Besucher*innen, damit gehört das Ereignis zu den größten Prozessionen weltweit. In diesem Jahr haben alle Venezolaner*innen die Jungfrau wohl um das Gleiche gebeten, einen Ausweg aus der politischen und wirtschaftlichen Krise. Hohe Kriminalität, Inflation, Lebensmittel- und Medikamentenmangel sind im Land seit Monaten an der Tagesordnung.

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Menschenmassen ziehen friedlich während der Prozession auf der Venezuela Avenue durch Barquisimeto.

Jedes Jahr am 14. Januar erholen sich die Venezolaner*innen, besonders in Barquisimeto und Umgebung, von Stress und Sorgen und genießen einen ruhigen und friedlichen Feiertag, an dem vor allem eins wichtig ist: die Jungfrau zusammen mit den Lieben auf ihrer Wallfahrt zu begleiten. Jeder nimmt auf seine Weise an der Prozession teil. Viele lösen ihre Versprechen ein, beten für sich und ihre Angehörigen. Manche laufen die etwa 10 Kilometer lange Strecke von Barquisimeto nach Santa Rosa, andere besuchen den frühen Gottesdienst in Santa Rosa, um die Divina Pastora von Anfang an zu begleiten. Einige laufen barfuß, tragen schwere Kreuze, verkleiden sich als Jesus oder ziehen ihre kleinen Töchter als Hirtinnen an. Die Meisten treffen sich mit Familie und Freunden, um an der Prozession teilzunehmen. Nur wenige Leute verfolgen im Fernsehen die Prozession.

Lieder, Gebete, Gottesdienste und Feuerwerke gehören zu diesem Ereignis sowie Sicherheitsbeamte, medizinische Hilfe, Straßenverkäufer*innen und Erfrischungsstände mit Klementinen und Sorbets.

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Religion vereint die Menschen in Venezuela: Die Figur der Divina Pastora begleitet von tausenden Gläubigen bei der Prozession in Barquisimeto.

Offenbarung im Traum

Der marianische Titel „Divina Pastora“ stammt aus Sevilla und entstand schon im 18. Jahrhundert, als dem spanischen Kapuziner Fray Isidoro am 24. Juni 1703 beim Beten die Jungfrau Maria erschien. Der Gläubige erklärte, die Jungfrau habe ihn gebeten, sie beim Namen „Divina Pastora de las Almas“ („göttliche Hirtin der Seelen“) zu nennen. Am Tag nach dem Erlebnis beauftragte Fray Isidoro den Künstler Miguel Alonso de Tovar, ein Bild von dieser Erscheinung zu malen. Fray Isidoro bat den Schnitzer Francisco Ruiz Gijón um eine originalgroße Skulptur der Erscheinung. Im Oktober 1705 wurde diese zum ersten Mal an der Spitze einer Prozession getragen. Heute wird sie in der Kapelle der Divina Pastora de las Almas in der Amparo Straße in Sevilla verwahrt, die ihrem Kult gewidmet ist. Im 18. Jahrhundert verbreitete der Priester Isidoro mit Hilfe der Missionare von Sevilla aus den Glauben an und die Liebe zur Divina Pastora in großen Teilen Spaniens und Amerikas.

Ihre Ankunft in Venezuela

Der Kult um die Divina Pastora erreichte Venezuela mit den spanischen Kapuzinermönchen im Jahr 1706. Die erste Kapelle, die 1745 in Venezuela der Divina Pastora gewidmet wurde, befindet sich heute in der Kirche „La Pastora“ in Caracas. Ihr Kult entstand im Bundesstaat Lara, wo die Kapuzinermönche sie einsetzten, um mit den indigenen „Gayones“ Frieden zu schließen und den Katechismus weiter zu verbreiten.

Zwischen 1736 und 1746 gab der Pfarrer von Santa Rosa, Sebastian Bernal, eine Skulptur von der Unbefleckten Empfängnis in Auftrag. Etwa zeitgleich forderte der Pfarrer der Konzeption von Barquisimeto, Felipe del Prado, eine Holzschnitzerei der Divina Pastora an. Die Tradition besagt, dass die Jungfrauen sich auf ihren Wegen gekreuzt haben und an den falschen Bestimmungsorten angekommen sind. Als die Statuen wieder in ihre ursprünglichen Pfarreien transportiert werden sollten, wurde die Kiste mit der Divina Pastora auf mysteriöse Weise schwer, was als der Wille der Jungfrau interpretiert wurde, in Santa Rosa zu bleiben. Die Kirche, die die Divina Pastora in Santa Rosa beherbergt, brach während des starken Erdbebens im Jahr 1812 zusammen, aber das Bild der Jungfrau blieb intakt. Eine Tatsache, die auch die Einheimischen als Wunder betrachteten. Die Statue der Divina Pastora wurde 1864 zum Heiligtum geweiht.

Ihr Besuch von Santa Rosa nach Barquisimeto

Ein einschneidendes Ereignis, das den Grundstein für die Anbetung der Divina Pastora legte, war die Cholera-Epidemie in Venezuela Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Pfarrer der Kirche der Konzeption von Barquisimeto, Macario Yépez, entschied, die Figur mit zur Prozession zu nehmen. Er bat damit um göttliche Hilfe gegen die Epidemie. Die Divina Pastora verließ Santa Rosa am 14. Januar 1856 gefolgt von einer riesigen Menschenmenge. In der Kirche von Barquisimeto kniete der Priester Yépez mit gestreckten Armen und sagte: „Ich bitte dich, Mutter, rette diese Stadt. Lass mich das letzte Opfer der Cholera sein!“ Es wird erzählt, dass von dem Tage an die Epidemie nachließ, aber der Priester an Cholera erkrankte und fünf Monate später am 16. Juni 1856 starb.

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In Venezuelas schweren Zeiten erinnern die Gläubigen nach der Prozession an ihre Verwandten, die ins Ausland geflohen sind.

In diesem Jahr hat das Erzbistum Barquisimeto den „Weg der Glückseligkeit“ mit elf Stationen der Prozession eingeführt, um den Glauben und die Religiosität der wichtigsten marianischen Prozession in Venezuela zu stärken.

Eine Station, die die Teilnehmer*innen in diesem Jahr besonders bewegte, war eine riesige Leinwand, auf der jeder den Namen seiner Verwandten schreiben konnte, die nicht im Land waren, um sie somit bei der Veranstaltung teilzunehmen zu lassen. Tausende Namen und Länder kamen zusammen, denn in den letzten Jahren ist die Zahl der Venezolaner*innen, die wegen dem „Sozialismus“ und auf der Suche nach einer besseren Lebensqualität aus Venezuela in die Nachbarländer, die USA oder Europa auswanderten, deutlich angestiegen.